<p>Das <hirend="italic">Experimentieren</hi> weckt in den Diskursen der Digital
Humanities oftmals Assoziationen von Versuch und Spiel. Eine darüber hinaus
wichtige Komponente dieses rhetorischen Stilmittels wird in deutschsprachigen
Publikationen allerdings weithin übersehen: und zwar seine Verbindung zu einer
<quote>importance of failure</quote>. Der Beitrag hat primär zum Ziel,
diesen Topos des Scheiterns vor dem Hintergrund erkenntnistheoretischer
Überlegungen zu besprechen, die in dem Forschungsfeld gängig sind und sich um
die <hirend="italic">Möglichkeiten</hi> der Digital Humanities drehen.
Abschließend wird der Blick auf den Deutungsrahmen gelenkt,
innerhalb dessen Infrastrukturen als ›Laboratorien‹ und Methoden als ›Experimente‹ verstanden werden; eine Einordnung, hinter der sich die Notwendigkeit für eine Wertbestimmung verbirgt.</p>
</argument>
<argumentxml:lang="en">
<p>The language of <hirend="italic">experimentation</hi> favours tendencies
within Digital Humanities discourses that emphasize aspects of innovation and
play. There is, however, another component that is often overlooked in the
German context: and that is the association with an <quote>importance of
failure</quote>. This essay examines whether the dimensions of failure
mentioned within the field are rooted in epistemological concerns. To that end,
it first (and foremost) reviews scholarship concerned with the <hi
rend="italic">possibilities</hi> of Digital Humanities knowledge production
before concluding with a look at the way in which the framing of
infrastructures as <hirend="italic">laboratories</hi> and methods as <hi
rend="italic">experiments</hi> may obscure the need for value
assessment.</p>
</argument>
</div>
<divtype="chapter">
<head>Einleitung</head>
<p>Wenn man von <termtype="dh">Experimenten</term> oder einem <termtype="dh"
>experimentellen Charakter</term> in den Digital Humanities spricht, dann wählt
man nicht nur die Sprache des Versuchs und des Spiels,<notetype="footnote"> Lisa
Spiro zufolge gehört der Begriff <termtype="dh">Experiment</term> zu einer
<quote>constellation of terms such as curiosity, play, exploration, and
do-it-yourself</quote> (<reftype="bibliography"target="#spiro_values_2012">Spiro 2012</ref>, S. 30.)</note> sondern auch die
Sprache des Erfolgs und Misserfolgs.<notetype="footnote"> Entsprechend ist der
Begriff auch bei Spiro verknüpft, wenn sie feststellt, dass zwar nicht alle
Experimente von Erfolg gekrönt seien, die DH-Community aber <quote>the value of
failure in pursuit of innovation</quote> (<reftype="bibliography"target="#spiro_values_2012">Spiro
2012</ref>, S. 29) zu schätzen wisse.</note> Das eine provoziert die Assoziation des anderen; bisweilen
auch als bloßes Versprechen, das sich auf eine unbestimmte Zukunft richtet und
Wertfindungsfragen der Gegenwart mit Hinweis auf einen noch ausstehenden Reifungs-
und Konsolidierungsprozess auszublenden sucht. Dass Misserfolg in den Digital
Humanities, zumindest in der englischsprachigen Forschungsliteratur, als Baustein
auf dem Weg zum Erfolg gedeutet, für diesen teilweise gar als unabdingbar
dargestellt wird, hat niemand so deutlich formuliert wie John Unsworth, der seinen
Aufsatz zur Bedeutung des Scheiterns in den Digital Humanities – 1997, <bibl>
<titletype="desc">avant la lettre</title>
</bibl> – mit dem denkwürdigen Satz einleitet: <quote>If an electronic scholarly
project can’t fail and doesn’t produce new ignorance, then it isn’t worth a
failure</quote>, (3) <quote>failure as artifact</quote> und (4)
<quote>failure as epistemology</quote> (<reftype="bibliography"target="#croxall_pedagogy_2015">Croxall / Warnick 2015</ref>).</note> als auch für die Taxonomie von Quinn Dombrowski, die einen
umfassenderen Ansatz verfolgt und neben technologischen Aspekten insbesondere
kommunikative und karrieristische Fallstricke betont.<notetype="footnote"> Neben
dem (1) <quote>technical failure</quote> sind das (2) <quote>disciplinary
(6) <quote>timing failure</quote>, (7) <quote>failure to probe
assumptions</quote>, (8) <quote>failure to acknowledge change</quote>, (9)
<quote>failure to forge a shared vision</quote> und (10) <quote>failure to
do right by others</quote> (<reftype="bibliography"target="#dombrowski_taxonomy_2019">Dombrowski 2019</ref>). </note> Shawn Graham
bedient sich sowohl bei Dombrowski als auch bei Croxall / Warnick, um das eigene
Lebenswerk einzuordnen.<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#graham_essays_2019">Graham 2019</ref>, S. 12.</note> Max
Kemman fragt, ob das <hirend="italic">Scheitern</hi> deswegen Einzug in die
DH-Gedankenwelt gefunden habe, weil die DH primär als Form der Softwareentwicklung
und nicht als Forschung verstanden würden.<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#kemman_failures_2019">Kemman
2019</ref>.</note> Bethany Nowviskie knüpft ihre Ausführungen ganz konkret an die
Entstehungsgeschichte des ›Scholars’ Lab‹ an der University of Virginia, das als
Nukleus einer ganzen Generation von DH-Wissenschaftler*innen in der Nachfolge John
Unsworths und Jerome McGanns gelten kann und in dieser Tradition
Fortschrittsnarrative verinnerlicht hat,<notetype="footnote"> Die Rolle, die das
English Department an der University of Virginia in der Verstetigung der
angloamerikanischen Digital Humanities gespielt hat, war bereits Gegenstand
einer Kontroverse, als deren Auslöser eine unsachlich-politisierende, wenn
nicht gar polemische, Retrospektive angesehen werden kann; vgl. <reftype="bibliography"target="#allington_tools_2016">Allington et
al. 2016</ref> und die zeitnahe Replik <reftype="bibliography"target="#spahr_resistence_2016">Spahr et al. 2016</ref>.</note> welche sich bei
Nowviskie in Überlegungen zu <quote>experimentellen Frühphasen</quote>
<notetype="footnote">
<quote>The early, experimental days of humanities computing at UVa taught me to
see openness to failure and
<hirend="italic">openness itself</hi>
as our best paths to learning in DH</quote> (<reftype="bibliography"target="#nowviskie_fail_2012">Nowviskie 2012</ref>).
Hervorhebungen im Original.</note>, einer <quote>Hermeneutik des Machens [oder]
der Fabrikation</quote>
<notetype="footnote">
<quote>We are seeking evidence in our intellectual labor together, of the
emergence of a new, non-discursive hermeneutic of ›making‹ in the digital
humanities</quote> (<reftype="bibliography"target="#nowviskie_fail_2012">Nowviskie 2012</ref>). Es sei darauf hingewiesen, dass
<hirend="italic">making</hi> in diesen Diskursen die Konnotation des
Tüftelns, Werkelns und Bastelns hat und mit ›Machen‹ nicht ganz adäquat zu
übersetzen ist.</note> und einer <quote>spielerischen Entdeckerlust</quote>
<notetype="footnote">
<quote>[W]ho taught me to learn by breaking, warping, deforming, loving, and
above all by
<hirend="italic">playing with things</hi>
in a lighthearted way—with objects of our shared cultural heritage, to
be sure—but also by playing with and within the
<hirend="italic">institutional structures</hi>
that shape and circumscribe or enable our work</quote> (<reftype="bibliography"target="#nowviskie_fail_2012">Nowviskie 2012</ref>). Hervorhebungen im Original.</note> äußern.</p>
<p>Dieser kurze Überblick soll lediglich als Einstieg dienen, denn es gilt einigen
Fragen vertieft nachzugehen. Die Verknüpfung von Vorstellungen des <hi
rend="italic">Scheiterns</hi> mit methodischen Anleihen an <hirend="italic"
>Experimente</hi> und einer institutionellen Koppelung von DH-Forschung an
sogenannte <hirend="italic">Labs</hi>
<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#pawlicka_turn_2020">Pawlicka-Deger 2020</ref>.</note> legt nahe, dass dieses
Dreieck aus Machbarkeit, Machen und Wirk- oder Werkstätte einen zumindest nicht
unbedeutenden Anteil an dem Selbstverständnis des Feldes hat. Es erscheint daher
sinnvoll, diese Phänomene nicht isoliert zu betrachten, sondern als Kontinuum zu
verstehen, das an einer verdeckten Sinnfrage laboriert; einer Sinnfrage, die da
eben nicht lautet: Was <hirend="italic">sind </hi>die Digital Humanities?
Sondern: Was <hirend="italic">können</hi> die Digital Humanities? Mehr noch: Was
<hirend="italic">sollten</hi> sie können? Und schließlich: Was können sie <hi
rend="italic">nicht</hi>?</p>
<p>Die Beantwortung solcher Fragen bewegt sich zwangsläufig in einem Spannungsfeld
verschiedener Erwartungshaltungen und entsprechend differenziert muss der Blick
auf mögliche Hinweisgeber sein. Wenn wir die Möglichkeiten der Wissensfindung in
den Digital Humanities von den Möglichkeiten der Wissensfindung in den
Geisteswissenschaften her denken, um anschließend eruieren zu können, inwiefern
über diese hinausgegangen werden kann, respektive inwiefern die Digital Humanities
hinter ihnen zurückbleiben, führt uns das in wissenschaftstheoretische
Überlegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Wenn es sich bei dem dräuenden Schatten
eines Scheiterns (oder der Befreiungsmacht desselben) hingegen um ein
wissenschaftssoziologisches Phänomen handelt, das Selbstvergewisserungsprozesse
narrativ einhegen soll, dann wird man nicht umhinkommen, vermeintliche oder reale
Unzulänglichkeiten dezidiert als Frage der Umsetzung zu diskutieren und von dem
theoretischen Diskurs um Erkenntnismöglichkeiten explizit abzugrenzen. Zuletzt hat
das Thema eine außerakademische, gesellschaftliche Dimension: Wenn wir die Digital
Humanities und ihren <hirend="italic">Erfolg</hi> oder <hirend="italic"
>Misserfolg</hi> als Fach, intellektuelle Bewegung oder lose verbandelte
Interessensgemeinschaft in einen größeren zeitgeschichtlichen Kontext stellen –
was für den wissenschaftlichen Austausch mangels belastbarer Aussagen jenseits der
eigenen Beobachtung kaum geeignet, aber gerade deswegen von übergeordneter
struktureller Bedeutung ist – müssen wir von eben jenen Fremdbildern Kenntnis
nehmen, deren bejahende oder warnende Haltung sich entweder in abgeschwächter Form
unmittelbar in den Digital Humanities wiederfindet oder auf die sie, wenngleich
unterbewusst, in ihren Selbstdarstellungen reagieren.<notetype="footnote"> Ein
Beispiel für eine bewusste Reaktion auf die kritische Fremdwahrnehmung der
Digital Humanities im US-amerikanischen Kontext, die zugleich Argumente der
Kritiker aufgreift und in Teilen bestätigt, ist <reftype="bibliography"target="#weed_shadows_2014">Weed / Rooney (Hg.) 2014</ref>.</note> Dass solche Wahrnehmungen auch von Wissenschaftler*innen
anderer Disziplinen in die gesellschaftliche Breite getragen werden, zeigt sich an
Hans Ulrich Gumbrechts Jeremiade über den Zustand der Geisteswissenschaften, in
der er von einer <quote>intellektuellen Überbewertung der elektronischen
<p>Unabhängig davon, ob man diese Meinung für exemplarisch hält oder nicht, ist sie
Teil des Rahmens, in den die Digital Humanities und ihre Rhetorik eingebettet
sind. Im Nachfolgenden soll es nun insbesondere um die ersten beiden Perspektiven
gehen, die wissenschaftstheoretische und die wissenschaftssoziologische, um daraus
Impulse für die – gegenwärtig noch ausstehende – Einordnung des
DH-Experimentbegriffs<notetype="footnote"> In Publikationen wie Sayers 2017
sucht man vergebens nach einer plausiblen Definition dessen, was dort sogar
titelgebend ist. Zum Experimentbegriff in den Digital Humanities, siehe auch den
Beitrag von Sarah Lang in diesem Band, vgl. <reftype="bibliography"target="#lang_experiments_2022">Lang 2022</ref>.</note> sowie die –
gegenwärtig noch nicht abschließend reflektierte – Prävalenz einer darüber
hinausgehenden sprachlichen DH-Laborisierung abzuleiten.<notetype="footnote"> Es
sei darauf hingewiesen, dass am 24. März 2021 im Rahmen der vDHd-Tagung
›Experimente‹ ein Workshop zu dem Thema ›(Keine) Experimente in den Digital
Humanities?‹ stattgefunden hat, organisiert von Jonathan D. Geiger, Max
Grüntgens und Dominik Kasper von der Akademie der Wissenschaften und der
Literatur Mainz. Hierbei wurde dieses Desiderat thematisiert, vgl. <ref
target="https://vdhd2021.hypotheses.org/223">vDHd (Hg.) 2021</ref>. In Bezug auf die sprachliche Laborisierung
hat <reftarget="pawlicka_turn_2020">Pawlicka-Deger 2020</ref> die umfangreichste Betrachtung vorgelegt, die jedoch weder in besonderem Maße
auf politisch-ökonomische Sachzwänge noch auf die
gesellschaftlich-wissenschaftliche Legitimationskrise eingeht, die die
Humanities in den USA – woher der Trend der institutionellen ›Laborisierung‹ in
den Digital Humanities stammt – spätestens seit den <hirend="italic">Science
Wars</hi> in den 1990ern verschärft begleitet und in der Abwägung solcher
vermeintlich legitimierender Tendenzen nicht völlig außer Acht gelassen werden
sollte; vgl. hierzu eine Aussage zum Ausgang der <hirend="italic">Science
Wars</hi>, die nahelegt, warum manche <hirend="italic">humanists</hi> sich
(unterbewusst) bemüßigt gefühlt haben mögen, anderen Wissenschaftler*innen –
zumindest deklaratorisch – in die Labore zu folgen: <quote>They [scientists]
then returned to their labs, with many concluding that the humanities was
really irrelevant to their research</quote> (<reftype="bibliography"target="#pennock_instinct_2019">Pennock 2019</ref>, S. 210f.). </note>
Dass dieses Thema eine gewisse Dringlichkeit aufweist, liegt dabei nicht so sehr
an einem allgemeinen Erkenntnisinteresse, sondern an den Verdrängungseffekten, die
sich aus der Dominanz bestimmter Wortbilder ergeben können und anderweitig
assoziierte Erklärungsansätze aus dem konsensorientierten Deutungsrahmen fallen
lassen. In anderen Worten: Computergestützte Verfahren spielen in den
Geisteswissenschaften ebenso eine Rolle wie die allgemeine Digitalisierung von
Lebenswelten; doch was sagt uns das über Arbeitspraktiken und
Wissenschaftsansprüche?</p>
</div>
<divtype="chapter">
<head>2. Denktradition: Zwei Kulturen</head>
<p>Es wäre vermessen, an dieser Stelle eine Zusammenfassung der gesamten Literatur zu
Methodik und Gegenstand der Geisteswissenschaften leisten zu wollen; zu stark
müsste man hierfür Begriffe und Positionen verkürzen, die im deutschsprachigen
Raum mit Philosophen und Gelehrten wie Dilthey, Schleiermacher, Husserl, Heidegger
und Gadamer verknüpft sind. Daher ist es zunächst einmal wichtig, jene
epistemologischen Schwerpunkte zu identifizieren, die für eine Einordnung der
Digital Humanities besonders relevant erscheinen. Der Rekurs auf die
Geisteswissenschaften ergibt sich ganz prinzipiell aus der Tatsache, dass in den
Digital Humanities oft ein geisteswissenschaftliches Erkenntnisinteresse
vorausgesetzt wird, mutmaßlich beeinflusst durch die Tatsache, dass viele
Forscher*innen, die sich mit diesem Feld identifizieren und in Fragen
der Wissenschaftstheorie zu Wort melden, ursprünglich in einem traditionellen
geisteswissenschaftlichen Fach beheimatet waren oder es, ungeachtet ihres
Interesses an dem wie auch immer gearteten Einsatz von Computern und Technologien
in den Geisteswissenschaften, weiterhin sind.<notetype="footnote"> Obwohl die
Untersuchung von Melissa Terras zu der disziplinären Verortung von
Teilnehmer*innen der ACH / ALLC-Konferenz bereits etwas älter ist, ist sie
trotzdem noch interessant; ob sich hieraus weiterhin Rückschlüsse auf rezente
Entwicklungen ziehen lassen, bedürfte einer neueren und auch umfassenderen
Studie; vgl. <reftype="bibliography"target="#terras_studies_2006">Terras 2006</ref>.</note> Es steht zu vermuten, dass man eine
Betrachtung der Thematik auch aus einer anderen Sicht, etwa aus der Sicht der
Informatik, konzipieren könnte; dies ist und bleibt zwar ein Desiderat (dessen sich die Computational Humanities zunehmend annehmen<notetype="footnote">
Vgl. bspw. <reftype="bibliography"target="#offert_humanities_2020">Offert / Bell 2020</ref>.</note>), allerdings würde es im vorliegenden Fall
nicht dabei behilflich sein, die mehrheitlich bestehenden DH-Diskurse und die
ihnen zugrundeliegenden Denktraditionen nachzuvollziehen. </p>
<p>In diesem Sinne sollten wir zuallererst Grundannahmen formulieren, die
selbstverständlich erscheinen mögen, es im internationalen Vergleich allerdings
nicht immer sind. Hierzu zählen beispielsweise die Annahmen, dass </p>
<listtype="ordered">
<item>es einen überordneten Wissenschaftsbegriff gibt, der </item>
<item>die Geisteswissenschaften einschließt und </item>
<item>eine Unterscheidung zwischen Wissenschaften einerseits mit ihrem
Untersuchungsgegenstand und andererseits mit ihrem Methodenrepertoire, nicht
aber ideologisch begründet. </item>
</list>
<p>Während die Antwort auf die Frage, ob denn die Geisteswissenschaften
Wissenschaften seien, bei dem deutschen Begriff zumindest vordergründig
inbegriffen ist (ohne dass wir damit näher spezifiziert hätten, was <hi
rend="italic">Wissenschaft</hi> ausmacht), wird es mit Blick auf den
englischsprachigen Diskurs etwas komplizierter; und dieser Blick ist alleine
deswegen unvermeidbar, weil Englisch als <hirend="italic">lingua franca</hi> der
internationalen Digital Humanities gilt.<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#crane_humanities_2015">Crane 2015</ref>; <reftype="bibliography"target="#fiormonte_taxation_2021">Fiormonte 2021</ref>. </note> Um es deutlich festzuhalten: Es gibt im Englischen
keinen Wissenschaftsbegriff, der sowohl die Geistes- als auch die
Naturwissenschaften umfassen würde; <hirend="italic">humanities</hi> sind keine
<hirend="italic">sciences</hi> und <hirend="italic">humanists</hi> keine <hi
rend="italic">scientists</hi>.<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#bod_field_2016">Bod et al. 2016</ref>,
S. 4. </note> Wer meint, dies wäre für die Identitätsfindung der Digital
Humanities irrelevant, irrt. Im Gegenteil: Aus dieser Grundkonstellation leitet
sich ein nicht unerheblicher Anteil definitorischer Schwierigkeiten ab, da sich
die Digital Humanities, grob gesprochen, nicht nur zu den Geisteswissenschaften
verhalten und von diesen abheben oder auch nicht, sondern als Schnittstelle oder
Mittler – so eine gängige Vorstellung ihrer Verortung<notetype="footnote"> Vgl.
bspw. <reftype="bibliography"target="#rehbein_digitalisierung_2020">Rehbein 2020</ref>, S. 1427.</note> – zwangsläufig von den Polen abhängig sind,
zwischen denen sie angeblich pendeln. Eine Positionsbestimmung kann ohne
Bestimmung des Rahmens, in dem sie stattfindet, nicht gelingen.</p>
<p>Bestes Beispiel für die Art und Weise, wie die Wissenschaftskonzeption im
englischsprachigen Raum in die Digital Humanities hineinwirkt, ist ein Aufsatz von
Paul S. Rosenbloom, der nach seiner Erstveröffentlichung in <hirend="italic"
>Digital Humanities Quarterly (DHQ)</hi> Eingang in den kuratierten und weithin
beachteten Band <bibl>
<titletype="desc">Defining Digital Humanities</title>
Rosenbloom beschäftigt sich mit der Frage, wie man die <hirend="italic"
>humanities</hi> als Teil von <hirend="italic">science</hi> begreifen
könne<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#rosenblom_2012">Rosenbloom 2013</ref>, S. 220.</note> – mehr noch,
als Untermenge der <quote>social sciences</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#rosenblom_2012">Rosenbloom 2013</ref>, S. 232.</note>. Sein Hauptargument zielt
darauf, dass <quote>any enterprise that
<hirend="italic">tends to increase our understanding of the world over time</hi></quote><notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#rosenblom_2012">Rosenbloom 2013</ref>, S. 221. Hervorhebung im Original.</note>
als <quote>essentially scientific</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#rosenblom_2012">Rosenbloom 2013</ref>, S. 221.</note> anzusehen sei. Zwar erkennt
er an, dass es in anderen Ländern bereits andere Wissenschaftsverständnisse gibt
als jenes, das <hirend="italic">science</hi> im Englischen sehr eng auslegt, und
er verweist sogar darauf, dass man sich für einen umfassenden Wissenschaftsbegriff
im Deutschen bedienen könne<notetype="footnote">
<quote>[W]hether the generic is called philosophy, or science, or even
<hirend="italic">Wissenschaft</hi>
– a German word for science that includes not only those academic
disciplines typically labeled as science in English but also other areas of
academic study, such as the humanities</quote> (<reftype="bibliography"target="#rosenblom_2012">Rosenbloom 2013</ref>,
S. 223).</note> – die Lektüre mutet aber trotzdem befremdlich an. Existente
Überlegungen aus dem Bereich der Wissenschaftsphilosophie werden nicht näher
rezipiert.<notetype="footnote"> So würde man annehmen, dass für die Theorie
der Geisteswissenschaften im englischsprachigen Raum Schriften wie Georg Henrik
von Wrights <bibl>
<titletype="desc">Explanation and Understanding</title>
</bibl> von Interesse wären, vgl. <reftype="bibliography"target="#wright_explanation_1971">von Wright 1971</ref>; in anglophonen DH-Diskursen
sucht man solche Referenzen allerdings vergebens, was mutmaßlich nicht so sehr
auf ein spezifisches Versäumnis der Digital Humanities hindeutet als auf eine
wenig ausgeprägte Auseinandersetzung mit solcher Theoriegeschichte in den
Humanities an sich. Bei Rosenbloom finden Popper, Kuhn und Feyerabend als
<reftype="bibliography"target="#nowviskie_fail_2012">Nowviskie 2012</ref>, <reftype="bibliography"target="#dombrowski_taxonomy_2019">Dombrowski 2019</ref> und
<reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref> basieren auf mündlichen Vorträgen und man könnte diese Beobachtung
noch um weitere bedeutende Texte wie Wilhelm Windelbands Straßburger
Rektoratsrede (1894) ergänzen, wobei es sich natürlich um Zufall handeln mag –
andererseits leuchtet es ein, dass gerade Vorträge dazu einladen, in
unverbindlichem Rahmen grundsätzlicher zu werden; das nur als
wissenschaftssoziologische Anmerkung am Rande.</note> Die Einbindung der
Grimm’schen (wenn auch nicht originär Grimm’schen)<notetype="footnote"> Es soll
darauf hingewiesen sein, dass Grimm sich hierbei auf eine französische
Tradition beruft, die es vertieft zu recherchieren gälte, wollte man dieser
Wissenschaftsgeschichte weiter auf den Grund gehen. Lauer nennt einige
frühneuzeitliche Vorläufer von ›exakten‹ Methoden in den Geisteswissenschaften,
geht aber nicht näher auf die zeitgenössischen wissenschaftstheoretischen
Diskurse ein; vgl. <reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref>, S. 159–161.</note> Unterscheidung zwischen
genauen und ungenauen Wissenschaften ist von Interesse, weil Lauer sie auf die
Polemiken abbildet, die insbesondere im angloamerikanischen Raum Kritik an den
Digital Humanities üben und Erkenntnisprozesse in den <hirend="italic"
>humanities</hi> vor allen Dingen in der Kraft des menschlichen Geistes
situiert wissen wollen, also jeglichen Versuch der Externalisierung a priori
ablehnen.<notetype="footnote"> Lauer bezieht sich unter anderem auf die
plakative Artikelreihe <bibl>
<titletype="desc">The Digital Humanities War</title>
</bibl>, die 2019 in <bibl>
<titletype="desc">The Chronicle of Higher Education</title>
</bibl> zwei Aufsätze demonstrativ gegeneinander antreten ließ; zudem wurden
unter dem Titel der Reihe auch ältere Beiträge subsumiert. Diese Art von
Beiträgen, bei denen es sich streng genommen eher um <termtype="dh"
>op-eds</term> handelt, um Meinungskommentare, ist gerade in dieser Form
durchaus typisch in einem polarisierten und bewusst polarisierenden
angloamerikanischen Publikationsumfeld. Für die widerstreitenden Artikel in
diesem Fall, vgl. <reftype="bibliography"target="#underwood_humanists_2019">Underwood 2019</ref> und <reftype="bibliography"target="#da_humanities_2019">Da 2019</ref>.</note> Lauer schränkt beständig
ein, dass Kriterien von vermeintlicher Objektivität und Exaktheit keine natürliche
Trennlinie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften bilden, vielmehr geht es ihm
darum, zu beweisen, dass die (deutschsprachigen) Geisteswissenschaften ihren
Anspruch auf Wissenschaftlichkeit schon seit Grimms Tagen aus ihrer Vorliebe für
nachvollziehbare Schritte, Abgleiche, Einordnungen, man möchte sagen: Formen der
historisch-kulturwissenschaftlichen Informationsverarbeitung ziehen, allerdings
verliert er sich dabei in den Widersprüchen, die er aufzulösen sucht; nicht
zuletzt deshalb, weil Fragen der Systematik des Vorgehens, der Gründlichkeit, der
Überprüfbarkeit, der Ausdrücklichkeit (im Sinne ihrer Explizitmachung) mit dem
Kriterium der Genauigkeit gleichgesetzt und mitunter verwechselt werden.<note
type="footnote"> Eine solche Verwechslung liegt im Fall der Stemmatologie vor,
von der Lauer behauptet, dass Dilthey sie <quote>aus seiner Theorie [der
<quotetype="grosszitat">While the humanities were supposed to search for the
unique, the sciences would deal with the general. This vision turned out to
be extremely influential as it gave the humanities a powerful identity
enabling them to differentiate and emancipate themselves from the other
disciplines. This constitutive separation between the humanities and
sciences, however, did not correspond to actual practice in the humanities
before the nineteenth century, as we have already seen. […] When Dilthey’s
and Windelband’s visions were gaining ground – from the early twentieth
century onwards – modelling practices in the humanities continued</quote>
(<reftype="bibliography"target="#bod_modelling_2018">Bod 2018</ref>, S. 85).</note> Zu Grimm sei noch gesagt, dass sein Impetus in seinem
Loblied auf die Ambivalenz der Geisteswissenschaften patriotisch geprägt war und
eben nicht oder nicht nur auf ihre Methoden zielte, die ihm
editionswissenschaftlich natürlich genauso nahe waren wie einem sonst oft als
Vertreter einer Verwissenschaftlichung der Geisteswissenschaften angeführten Karl
Lachmann,<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref>, S. 156. Während Jacob Grimms
Errungenschaften im Bereich der Linguistik bis dato Anerkennung finden, ist ihm
in philologischer Hinsicht allerdings nachgesagt worden, er habe im Gegensatz
zu Lachmann für eine ›wilde Philologie‹ gestanden, vgl. <reftype="bibliography"target="#wyss_philologie_1979">Wyss 1979</ref>. Tatsächlich
ist es so, dass Jacob Grimm und Karl Lachmann zu zwei Polen stilisiert worden
sind, deren Legimitation durchaus zu hinterfragen ist, die in diesem
Zusammenhang aber dennoch erwähnt werden sollten. Insbesondere zu Lebzeiten
galt Lachmann im Gegensatz zu Grimm als Vertreter von Methodenstrenge, während
Jacob Grimm im Gegensatz zu Lachmann <quote>intuitives Nachfühlen</quote> (<reftype="bibliography"target="#wolf_kontinuitaet_2012">Wolf
2012</ref>, S. 93) versinnbildlichte. Für mehr Informationen zu dem ›bipolaren‹
Narrativ über beide Wissenschaftler, vgl. <reftype="bibliography"target="#wolf_kontinuitaet_2012">Wolf 2012</ref>, S. 93–98.</note> sondern
auch (und in besonderem Maße) auf die Konsequenz ihrer Ergebnisse, das heißt in
seinem Fall auf ihre nationalgeschichtliche Bedeutung, die – da der
Untersuchungsgegenstand aus der Kultur erwachsen und nur in der Kultur zu
verstehen – <quote>uns näher zu herzen [sic!]</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#grimm_werth_2016">Grimm 2016</ref>, S. 63.</note> stünde. Man muss sich dieser
Argumentation nicht anschließen, um zu erkennen, dass die Frage nach einer <hi
rend="italic">Exaktheit</hi> in den Geisteswissenschaften keine Frage von
Zahlen oder Zählungen ist, sondern vielmehr zur Disposition stellt, was sich
daraus ableitet.</p>
<p>Anders formuliert: Was macht eine Methode in den Geisteswissenschaften zu einer
genauen Methode? Der Einsatz von Mess- und Maßeinheiten? Kann eine genaue Methode
in den Geisteswissenschaften genaue Ergebnisse, aber ungenaue Erkenntnisse,
hervorbringen und wäre ein solcher Fall dann Grund, von einem <hirend="italic"
>Scheitern</hi> zu sprechen? Kann im umgekehrten Fall eine ungenaue Methode
eine genaue Erkenntnis hervorbringen und wie ließe sich in beiden Fällen nicht die
Methode, sondern die <hirend="italic">Interpretation</hi> der jeweiligen
Ergebnisse nachvollziehen? Lauer sagt selbst, dass <quote>auch das Zählen [...]
das Interpretieren [braucht]</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref>, S. 165.</note>, nur bleibt offen, was diesen
letzten Schritt in den Geisteswissenschaften genau ausmacht; dabei ist das
Interpretieren, das <hirend="italic">Verstehen</hi>, genau jene
erkenntnistheoretische Chiffre, an der sich die Theorie der Geisteswissenschaften
seit jeher abarbeitet.</p>
<p>Wer Verstehen sagt, muss auch Dilthey sagen. Lauer wirft den Kritiker*innen der Digital
Humanities – bei ihm überwiegend bezogen auf Alison Louise Kennedy und Nan Z.
Da<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#lea_fish_2016">Lea 2016</ref>; <reftype="bibliography"target="#da_humanities_2019">Da 2019</ref>.</note> – vor, in dieser
Tradition zu stehen: <quote>Tatsächlich übernehmen Kennedy, Da und andere in den
gegenwärtigen Debatten um die Möglichkeiten der Digital Humanities für ihre
Behauptungen nur ältere Thesen vor allem von Wilhelm Dilthey.</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref>, S. 163.</note> Und hernach wiederholt:
<quote>Dilthey und seine [Nachfolger].</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#lauer_wert_2020">Lauer 2020</ref>, S. 163.</note> Freilich erwähnen weder Kennedy
noch Da Dilthey mit auch nur einer einzigen Silbe, was ebenso für andere bekannte
Kritiker*innen der Digital Humanities gilt.<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#fish_humanities_2012">Fish 2012a</ref>;
<p>Es steht außer Frage, dass man über statistische Kenntnisse verfügen muss, wenn
man statistische Methoden anwendet – doch wie verhält es sich beispielsweise mit
der Kompetenz, Informationen angemessen zu visualisieren und zu kommunizieren oder
auf Rezipient*innenseite entsprechend zu prozessieren? Wie verhält es sich um das Bewusstsein, wie etwas entstanden, wo seine Provenienz, wann das Ende seines Lebenszyklus? Wenn wir annehmen, dass die Geisteswissenschaften
evidenzorientiert sind (und das waren sie schon bei Dilthey, denn wo keine
Überlieferung, da keine Verstehensgrundlage) – wenn wir also annehmen, dass die
Geisteswissenschaften evidenzorientiert sind und wenn wir weiterhin annehmen, dass
die Digital Humanities an der Evidenz rühren und nicht etwa an der Fähigkeit des
Erkennens an und für sich – wenn wir also annehmen, dass die Digital Humanities
unseren Zugang zu bestehender Evidenz verändern, das heißt unseren Blick auf diese
Evidenz, und wenn wir weiterhin annehmen, dass die Digital Humanities darüber
hinaus den Bestand an Evidenz erweitern, dann ergibt sich daraus zunächst einmal
kein fundamentaler Eingriff in Erkenntnisprozesse, die einen Verstand voraussetzen
und sich an einen anderen Verstand richten. Diltheys psychologische Überlegungen
waren gerade in seinem Spätwerk eben keine Vereinzelungsargumente, sondern zielten
auf ein Bewusstsein von Zeithorizonten, innerhalb derer jedes denkende und
fühlende Subjekt seine Aussagen über die eigene Erlebniswelt zu veräußerlichen
hat. Letztlich laufen die erkenntnistheoretischen Diskurse in den Digital
Humanities an solchen Stellen auseinander, weil sie die Begründung eines
geisteswissenschaftlichen Argumentes traditionell mit Konzepten wie Divination und
Einfühlung<notetype="footnote"> Weil es in diesen Diskussionen traditionell
oft zur Sprache kommt, sei hierzu angemerkt, dass Dilthey gemeinhin für eine
Einfühlungssemantik vereinnahmt worden ist, obwohl er selbst so gut wie nie von
Einfühlung gesprochen hat und man sich hierfür eher Husserl zuwenden müsste
(was mit seiner Arbeit zur Intersubjektivität einhergeht, von dieser aber zu
unterscheiden ist), vgl. <reftype="bibliography"target="#makkreel_empathy_1996">Makkreel 1996</ref> und
<p>Warum aber sprechen die Digital Humanities nun so oft von ihrem eigenen
Experimentcharakter? Es ließe sich spekulieren, dass damit eine bewusste
Grenzüberschreitung intendiert ist, hin zu den Naturwissenschaften, die vermeintlich objektiver, wissenschaftlicher, empirischer.<note
type="footnote"> Die Geschichtswissenschaften haben sich der Empirie freilich
nie verwehrt, um nur ein Beispiel zu nennen. Ein Ansatz, der im Gegensatz zu
<reftype="bibliography"target="#windelband_geschichte_1904">Windelband</ref> (mit seiner Unterscheidung zwischen nomothetischen und
idiographischen Wissenschaften) Gesetzmäßigkeiten in der historischen Forschung
betont und sie als Teil der empirischen Wissenschaften definiert hat, findet
sich bereits bei <reftype="bibliography"target="#hempel_function_1942">Hempel 1942</ref>.</note> Aus geisteswissenschaftlicher Sicht kommen
Zitate wie dieses in den Sinn: <quote>One cannot put the Roman Empire in a test
tube, add a dash of Christianity, and watch to see whether it rises or
falls.</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#moore_politics_2017">Moore 2017</ref>, S. 4.</note>
</p>
<p>Dazu sei gesagt, dass es immer auf die Variablen ankommt oder besser gesagt auf
die Komplexität der involvierten Entitäten, ob man sie dahingehend modellieren
kann, dass sich daraus extrafaktische oder kontrafaktische Szenarien ableiten
lassen. Im Wissenschaftsrepertoire reiht sich das Experiment unter anderem neben
die Beobachtung von Evidenz, die Modellierung von Evidenz, die Manipulation von
Evidenz und die Simulation von Evidenz (die letzteren beiden als Sonderformen der
Modellierung). Der sogenannte ›Untergang‹ des Römischen Reiches eignet sich nach
derzeitigem Kenntnisstand nicht für solche Gedankenspiele, da es sich dabei
bereits um die deutende Beschreibung eines multikausalen Vorgangs handelt, der
sich nicht an einzelnen Ereignissen festmachen lässt und dessen
Bewertungsgrundlage entsprechend zu polyvalent für solche Vereinfachungen ist.
Gleichzeitig handelt es sich um eine vereinfachte, stark romantisierende
Vorstellung, man müsse in den Naturwissenschaften bloß Reagenzien vermischen und
dann zusehen, was passiert. Selbst wenn dem so wäre: Was reagiert in den
Digital Humanities womit? Ist es nicht ebenso naiv, anzunehmen, man könne Daten in
Kontakt mit bestimmten Verarbeitungsschritten bringen und hätte damit die Hürde
eines wissenschaftlichen Experimentes genommen? Zusehen, was passiert?</p>
<p>An dieser Stelle sei angemerkt, dass es womöglich zum eigenen Schaden der Digital
Humanities ist, mit welcher Persistenz sich die Experimentrhetorik bereits
festgesetzt hat, ohne eine wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung mit dieser
sprachlichen Praxis zu zeitigen. Zumindest in Teilen scheint sich diese Praxis aus
den Innovationsansprüchen des Feldes zu speisen, bei denen das <hirend="italic"
>Experiment</hi> als Antonym zu ›etablierten Methoden und Verfahren‹ agiert und
sich damit stilistisch in die Verwendung des Experimentbegriffs in den
Kulturwissenschaften einreiht: </p>
<p>
<quotetype="grosszitat">Die Kunst-, Kultur- und Literaturwissenschaften dagegen
selegieren in ihren Verwendungen des Experimentbegriffs in der Mehrzahl der
Fälle nur einen seiner semantischen Aspekte: den eines einmaligen Aktes des
Ausprobierens neuartiger (künstlerischer) Techniken. Sie konturieren
›Experimentieren‹ als sowohl innovativen als auch singulären
(nicht-reproduzierbaren) Akt der Erfindung, Entdeckung oder Schöpfung. Damit
scheinen sie die Prägungen des naturwissenschaftlichen
Experimentierverständnisses zu reduzieren. Doch blenden sie die
naturwissenschaftlich dominierte Definitionsmacht des Begriffs durchaus nicht
aus, die als expliziter oder impliziter Referenzpunkt stets erhalten
bleibt.</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#berg_konjunktur_2009">Berg 2009</ref>, S. 53.</note>
</p>
<p>Nun ergeben sich dadurch zwei Schwierigkeiten: Zum einen überdeckt die starke
Betonung eines Neuheitswertes ältere Forschungsliteratur und Forschungslogiken,
die eine längere Tradition haben, als ihre <hirend="italic">experimentelle</hi>
Anwendung suggerieren würde. Hierzu zählt insbesondere, wie auch bei Lauer
sinnvoll dargelegt, der Einsatz von quantitativen Methoden in den
Geisteswissenschaften, der prinzipiell weder besonders neu noch besonders
kritikwürdig ist.<notetype="footnote"> Vgl. hierzu in Bezug auf die
Literaturwissenschaft auch <reftype="bibliography"target="#bernhart_literaturwissenschaft_2018">Bernhart 2018</ref>. Für die quantitative
Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts sei stellvertretend auf die
französische Annales-Schule und die Bielefelder Schule verwiesen, vgl. hierzu
<reftype="bibliography"target="#buchner_konjunktur_2020">Buchner et al. 2020</ref>.
Publikationen in den Digital Humanities wie <reftype="bibliography"target="#mcgillivray_framework_2018">McGillivray et
al. 2018</ref> gehen nicht auf solche Vorläufer ein.</note> Zum anderen wird die
Verwendung des Experimentbegriffs in den Digital Humanities durch die Schaffung
von <hirend="italic">Labs</hi> als Arbeitsorten potenziert und stärker in die
Nähe einer (Natur‑)Wissenschaftlichkeit gerückt, die weder gegeben noch über eine
allgemeine Legitimierungs- und Authorisierungsfunktion hinaus mutmaßlich
intendiert ist. Keine Einrichtung, die in Zusammenhang mit den Digital Humanities
als <hirend="italic">Lab</hi> bezeichnet wird, muss hierfür bestimmte Kriterien
erfüllen, was die Vergleichbarkeit einschränkt und nahelegt, dass die assoziative
Kraft des erfolgsdruckbefreiten Ausprobierens, händischen Arbeitens und
kollaborativen gemeinschaftlichen Entdeckens im Vordergrund stehen soll. Hierzu
passt etwa, dass dezidiert von dem Amalgam des <quote>collaboratory</quote>
<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#siemens_notes_2012">Siemens / Siemens 2012</ref>. Man beachte das Resümee:
<quote>In the end, the experiment could be judged to be a failure as
measured by many common benchmarks. Despite attempts to fuse what the lab
felt to be the most desirable features of the single-researcher directed
›collaborat-ory‹ and that of the multiple-researcher directed
›co-laboratory‹, the lab became neither</quote> (<reftype="bibliography"target="#siemens_notes_2012">Siemens / Siemens 2012</ref>,
S. 374).</note> gesprochen wird und man mitunter das <hirend="italic">Lab</hi>
selbst zum <hirend="italic">Experiment</hi> deklariert.<notetype="footnote">
Vgl. <reftype="bibliography"target="#caton_humanities_2017">Caton et al. 2017</ref>.</note>
</p>
<p>In Anlehnung an die Ausführungen von Nowviskie, die, wie anfangs erwähnt, genau
diese Aspekte in Bezug auf das ›Scholars’ Lab‹ an der University of Virginia
hervorgehoben hat,<notetype="footnote"> Vgl. <reftype="bibliography"target="#nowviskie_fail_2012">Nowviskie 2012</ref>.</note> kann man sich
an die Frühphase der analytischen Chemie erinnert fühlen, als Laboratorien im
Entstehen begriffen waren, die im Laufe der Zeit dazu übergingen, ganz bestimmten
Zwecken zu dienen, ganz bestimmte Bedingungen herzustellen und ganz bestimmte
Forschung überhaupt erst zu ermöglichen, physisch, vor Ort, in der Beobachtung
bestimmter beeinflusster und unbeeinflusster Prozesse.<notetype="footnote"> Neben
den <bibl>
<titletype="desc">laboratory studies</title>
</bibl> in der Nachfolge Karin Knorr-Cetinas (vgl. <reftype="bibliography"target="#knorr_fabrikation_1984">Knorr-Cetina 1984</ref>), die gegenwärtige
naturwissenschaftliche Arbeitspraktiken kartographiert, lohnt ein Blick in die
Wissenschaftsgeschichte, die unter anderem auch den Aspekt der Kollaboration,
den die Digital Humanities so sehr betonen, unter anderen Vorzeichen
aufarbeitet (und entsprechende ›unsichtbare‹ Arbeitskräfte ließen sich auch in
der Geschichte der Geisteswissenschaften finden); vgl. <reftype="bibliography"target="#hentschel_haende_2008">Hentschel 2008</ref>. </note> Dabei gilt es allerdings das zu bedenken, was Justus
von Liebig in Hinblick auf den Zustand der analytischen Chemie zu Beginn des 19.
Jahrhunderts so treffend beschrieben hat: </p>
<p>
<quotetype="grosszitat">Chemische Laboratorien, in welchen Unterricht in der
Analyse ertheilt wurde, bestanden damals nirgendwo; was man so nannte, waren
eher Küchen, angefüllt mit allerlei Oefen und Geräthen zur Ausführung
metallurgischer oder pharmaceutischer Processe. Niemand verstand eigentlich die
Analyse zu lehren.</quote>
<notetype="footnote"><reftype="bibliography"target="#liebig_aufzeichnungen_1890">Liebig 1890</ref>, S. 822.</note>
</p>
<p>Es ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine offene Frage, ob sich die Laboratorien in
den Digital Humanities an den Wortschöpfungen des Kreativsektors orientieren oder
einen ähnlichen wissenschaftlichen Wandlungsprozess durchlaufen werden. Zumindest
impliziert ihre Existenz Rahmenbedingungen, innerhalb derer Parameter für ein
überwachtes, replizierbares, über sich selbst hinausdeutendes und in ein
externalisiertes Ganzes hineindeutendes Schaffen festgelegt werden können. Dieser
Punkt deutet eine weitere offene Frage an, nämlich die Frage, wie es um die
Reproduzierbarkeit in den Digital Humanities bestellt ist, wobei dabei zwischen
einer Nachvollziehbarkeit des Verfahrens und einer Wiederholbarkeit des
Ergebnisses unterschieden werden sollte. Eine Erörterung dieses Aspektes würde an
dieser Stelle zu weit führen, er soll aber erwähnt sein, da sich im Zuge der